Über das Wesen der Bildenden Kunst und über den Akt des Malens

B.Rossi, 1973   Foto von Vincent Böckstiegel

Über das Wesen der Bildenden Kunst und über den Akt des Malens

Eigentlich äußert ein Maler sich nicht in Worten, sondern nur mit seinen Bildern. Aber in heutiger Zeit, wo der Betrachter oft so hilflos vor dem so reichen Angebot an Kunstschaffen steht, möchte ich mich einmal äußern, und zwar über das Wesen der Kunst und über den Akt des Malens.

So sehr es wahr ist, dass der Mensch existiert, so wahr ist wohl auch, dass gerade in dieser seiner Existenz, wie in der Existenz von allem, eingeschlossen liegt des Seins großes Mysterium. Und dieses Mysterium, welches von den äußeren Erscheinungsformen des Lebens her auf den Menschen eindringt, in der innersten Gefühlswelt des Menschen tut es sich noch einmal kund als ein ureigenstes persönliches Seinserlebnis. Dieses innere Seinserlebnis, dieses innere Erleben dieses Mysteriums, ist für den zur Kunst geborenen Menschen die treibende Kraft zur Kunst und ihrer Aussage. Hier im innersten Wesen des Menschen also, wird die Kunst geboren, von diesem innersten Wesen her wird sie oder sollte sie wenigstens gestaltet werden, und sie kann auch nur vom innersten Wesen des Menschen her gefühlsmäßig erfasst und wirklich begriffen werden. In diesem Sinne also ist die bildende Kunst absolut, und in dieser ihrer direkten Absolutheit des rein gefühlsmäßigen Erfassens, von keiner Theorie und reinem Intelligenz-Verstand her zu erfassen, und noch viel weniger zu umschreiben und zu erklären. Sie ist das vom menschlichen Wesen erfasste Wesen des Mysteriums unserer Erscheinungswelt und unseres Lebens überhaupt. Und dieses Wesen ist Schönheit.

Und dieses möchte ich hier mal deutlich sagen, weil es schon einige Polemik aufgeworfen hat in der Diskussion um die bildende Kunst, wo man so gerne sagt, dass die bildende Kunst in ihrer Aussage nicht unbedingt schön, aber immer wahr sein müsse. Die Schönheit, von der ich spreche, hat nichts zu tun mit der berühmten “Kunst um der Kunst willen”. Sie ist nicht schöngeistig, sie ist wesenhaft geistig und ensteht einzig und allein in der Ergriffenheit vor der Schönheit des Seins und seines Mysteriums.Es ist wohl eine tiefe Wahrheit, dass der Mensch das Leben nur solange akzeptieren kann, wie er es als schön empfindet. Können wir das Leben nicht akzeptieren, brauchen wir auch keine Kunst mehr, denn dann erübrigt sich alles. Aber dieses ist ja nicht das Eigentliche, der Mensch hängt ja am Leben – und wie. (Seine eigentliche Tragödie ist, dass er vom Leben nur noch den Atem nimmt, und sich im Übrigen ein Abstraktum von Leben aufbaut, besonders in der heutigen Zeit.)

Das Phänomen der Kunst nun, dieses unbedingte Malen-müssen (für einen Maler), liegt im Mysterium des Lebens verankert, welches durch seine Schönheit den Künstler immer wieder antreibt zur Aussage. Und wie der bildende Künstler besonders durch die ihn umgebende Welt der Dinge diesen Anstoß empfängt, so kann er auch nur über diese Welt der Dinge sein Erlebnis wirklich äußern. Und auch der Betrachter kann nur über das Gemeinsame der Formenwelt, in der wir alle leben, wirklichen Zugang zum Erlebnis des Künstlers finden. Es gibt in der bildenden Kunst Europas keine wirklich gültige Aussage und Aussagemöglichkeit, außer über die Form, und zwar über die plastische Form. Dieses ist ein Grundgesetz, wenn die bildende Kunst in ihrer Reinheit und Kontrollierbarkeit nicht zerstört werden soll. Kunst als das Phänomen gehört nicht dem Künstler, sie gehört dem Mysterium des Lebens. Was dem Künstler gehört, ist das innere Erlebnis beim Zusammenstoß mit diesem Mysterium. Dieses gefühlsmäßig erlebte innere Erlebnis nun über das Äußerliche des Bildhaften zu äußern, wäre der Akt des Malens oder die Kreativität des Künstlers, welche dann den geistigen Wert eines Bildes ausmacht. Doch dieses Geistige ist wesenhaft Geistiges, ist das gefühlshaft gebliebene Erlebnisbild im Bilde, (so möchte ich das mal beschreiben), und eben nur rein von der Gefühlswelt des Betrachters her zu erfassen und nachzuerleben. 

Über die äußere Erscheinungswelt der Dinge also äußert der Künstler sein inneres Erlebnis. Und da dieses Erlebnis schön ist, so kann er es auch nur in Schönheit äußern. Sich über die Welt der Formen in Schönheit zu äußern, unterliegt einem Gesetz; dem Gesetz der harmonischen Verhältnisse zueinander. Dieses Gesetz ist kein starres Gesetz. Es ist auch vielmehr eine gefühlsmäßig empfundene Gesetzmäßigkeit von harmonischen Beziehungen der Formen und Volumen zueinander. Architektur – also Baukunst – und bildende Kunst haben hier gemeinsame Berührungspunkte. So sehr nun die Komposition im Bild nur Mittel zum Zweck ist, sie ist ein wichtiger Bestandteil, um über die äußere Welt der Formen jenes innere Erlebnis sichtbar zu machen. Das innere Bild, welches der Künstler vom Mysterium des Seins empfängt, ist ein sehr schönes, aber auch sehr zerbrechliches Bild; und er muss alle ihm zur Verfügung stehende Ästhetik anwenden, um über diesen Weg der rein äußerlichen Ästhetik jenes wesenhafte Bild zeigen zu können. Der in seinem formalen Aufbau klare und nüchterne, aber von innerster Emotion vor der Schönheit des Seins beseelte Geist, gestaltend über sein sicheres Gefühl der harmonischen Beziehung der Dinge zueinander, das ist die wahre Schönheit oder die Schönheit als die Wahrheit in der bildenden Kunst Europas. Sie äußert sich auf einem Bild als jenes vibrierende Etwas des Zusammenspiels von Formen, Volumen, Farbe und Licht, welche zwar durch Ästhetik gezeigt wird, aber mehr als rein äußerliche Ästhetik ist. Sie ist Wesenhaftes. Ihre schönste Zeit war die Romanik. 

Heute, wo der europäische Mensch keine innere Verbindung mehr hat zum Mysterium seines Lebens, sondern von diesem Mysterium wirklich nur noch den Atem nimmt, um damit sein absurdes Abstraktum von Leben aufzubauen und zu leben, hat dieser Vorgang auch die bildende Kunst weitgehenst ergriffen. Denn auch der Künstler hat heute jene innere Ergriffenheit vor dem Mysterium seines Seins verlassen und schafft nur noch von seinem eigenen Ich her zum Leben hin. Er produziert sich also selber. (Aber nicht da ist das Phänomen der bildenden Kunst, das steckt immer noch im Mysterium des Seins.) Die letzten Jahrzehnte des Kunstschaffens geben deutlich Auskunft, was dabei herauskommt. Überhaupt hat das allgemeine Verlassen dieses eben – Schönheitsmysteriums – unseres Seins sich ja nicht nur im Wesen, sondern auch im Schönheitsempfinden des europäischen Menschen zerstörend ausgewirkt. Wir sehen dieses an seiner heutigen Baukunst und an all den Formen seiner Gebrauchsgegenstände, mit denen er sich heute umgibt. Sie sind nicht mehr schön, sie sind nur noch auffallend – das ist alles. Nur im Erleben seines Seinsmysteriums empfängt der Mensch auch das rechte Gefühl für die Schönheit der Form wie überhaupt für alles wahre Schöne. Reines Genießen des Lebens ist noch lange nicht wahres Erleben des Seins.

Bernardo Rossi

Dettenschwang, Ammersee

Februar, 1985